Ausgabe 2/2017

Meinung kollektiv verdrängt. Es wissen doch (fast) alle Be- scheid. Wir brauchen doch keineMedien oder „den Fussek“, damit wir erfahren, wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den meisten Pflegeheimen sind. Wer es ehrlich wissen will, der kann sich doch täglich, unangemeldet zu jeder Tages- und Nacht- zeit persönlich vor Ort erkundigen, wie es seinen Eltern und Angehörigen geht. In vorbildlichen Pflegeheimen, und ich betone noch einmal, geht es selbstverständlich auch an- ders! Es gibt ein sogenanntes Frühwarnsystem: Viele Pflegekräfte, andere Mitarbeiter, kritische Angehö- rige und engagierte Ehrenamtliche kümmern sich und übernehmen Verantwortung für die schutzbe- fohlenen, alten Menschen. Ute Leonie beschreibt in ihrem Brief an Herrn Schneider ganz deutlich, dass man in der Öffent- lichkeit nur grauenhafte Bilder und Vorstellungen hat, was Pflegebedürftige imHeim erwartet. Scha- det man nicht dem Ansehen der Pflege, in dem man die Zustände immer nur einseitig darstellt? Ich werde sehr häufig von Seniorenclubs und Selbsthilfegruppen eingeladen. Ich nehme den Vorwurf der Angst sehr ernst und frage die Anwe- senden. Ich stelle immer wieder fest, dass auch die älteren Menschen alle Bescheid wissen, sie besu- chen Angehörige und Bekannte in den Einrich- tungen. Ein älterer Mann erklärte in einer Diskus- sion: „Herr Fussek, wir sind zwar alt, aber doch nicht blöd!“ Übrigens – es sprechen sich selbstver- ständlich auch die positiven Beispiele herum! Sie sehen in Ihrem Alltag immer nur die negati- ven Beispiele. Gibt es Ihnen nicht Hoffnung, wenn Sie sehen, dass es auch anders geht? Nicht nur in Bad Boll, sondern bei allen öffentli- chen Einladungen betone ich immer wieder, dass es selbstverständlich auch anders geht, dass men- schenwürdige Pflege, auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen, möglich ist und ich dies bei vielen Besuchen auch erleben durfte. Warum sollte ich das verschweigen? Ich kenne persönlich zahl- reiche vorbildliche Einrichtungen, selbstbewusste, kompetente, empathische und (noch) motivierte Pflegekräfte undHeimleitungen. In diesen „Leucht­ türmen“ (Zauberwort: „Wertschätzung“ aller Mitar­ beiter) werden beispielsweise auch die Auszubil- denden begleitet, „gepflegt“ und nicht ausgebeutet. Es gibt nicht „die“ guten oder „die“ schlechten Heime. Jedes Pflegeheim ist von Station zu Station, von Schicht zu Schicht verschieden. Es hilft auch nichts, wenn wir verzweifelten Angehörigen er- zählen, dass es auch gute Heime gibt, wenn diese längere Wartezeiten haben oder weit entfernt sind. Stimmt es Sie aber nicht doch optimistisch, dass es vorwärts geht? Der Träger verändert ja derzeit einiges in der Pflege, mit beispielsweise neuen Wohnformen und Unterstützung für mehr Häus- lichkeit. Sehr interessant finde ich die kreativen, fortschritt- lichen Projekte der Evangelischen Heimstiftung Wohnen PLUS . Allerdings benötigen wir keine weiterenModelle oder Studien, wir haben keinerlei Erkenntnisprobleme mehr. Herr Fussek, Sie haben jetzt das letzte Wort: Ich erwarte mir von Vertretern der Kirchen, der Evangelischen Heimstiftung und den Pflegeein- richtungen in kirchlicher Trägerschaft, dass sie sich klar ethisch positionieren und sich selbstver- ständlich vonMenschenrechtsverletzungen in der Pflege öffentlich abgrenzen und distanzieren. Kirchliche Pflegeheime müssen sich doch von börsenorientierten Einrichtungen unterscheiden. In allen kirchlichen Einrichtungen müssen palli- ative, geriatrische, pflegerische und medizinische Versorgungsangebote selbstverständlich sein. Amnesty International hat vor einigen Wochen in der Süddeutschen Zeitung mit einer großen Anzeige einen Leitsatz für die Koalitionsverhand- lungen veröffentlicht: „Vieles ist verhandelbar – Menschenrechte sind es nicht“. Ich hoffe, dass damit auch die Grundrechte alter, pflegebedürf- tiger Menschen gemeint waren. Ich erwarte von Mitarbeitern in kirchlichen Einrichtungen, dass sie für die ihnen anvertrauten Menschen Anwalts- funktion übernehmen, angstfrei und selbstbe- wusst im Sinne christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit arbeiten können und dürfen. Die evangelische Landesbischöfin Susanne Breit-Kessler hat bei einem unserer „Pflegestammtische“ deutlich erklärt: „Von Christenmenschen erwarte ich liebevolle, zärtliche und geduldige Begleitung, bei Kranken bestmögliche Pflege, palliative Medi- zin und Seelsorge – und das Schenken von Zeit und Nähe!“ Kommentar: Welche Bilder und Vorstel­ lungen laufen vor dem geistigen Auge ab, wenn Claus Fussek das Berufs- umfeld von Pflegekräften ausschließlich mit schwar- zen Farben malt? Wenn er von „Missständen“ und „Menschenrechtsverlet- zungen“ spricht? Wenn er mit unser allertiefsten Ängste spielt. Und die gegenteilige Wirkung er- zielt, die er vermutlich intendiert. Dass Pflegebe- dürftigkeit zum Alptraum schlechthin wird. Ohne Frage: Diakonie hat die Aufgabe der Anwalt- schaft. Aktuell in den Koalitionsverhandlungen um Prioritätensetzung in der Sozialpolitik. Diakonie muss sich stark machen, dass Pflegeeinrichtungen Orte der Beheimatung und Begegnung mitten im Quartier sind – nicht nur „Schutzräume“ und „Asy- le“. Diakonie hat Mythen zu benennen, an einem realistischen Altersbild zu arbeiten. Dass nicht die „schwarze-Schafe“-Dar­ stellung das Ventil laut- starker Empörung bedient und geschieht, was nie- mand will: Problemlösung per Gesetz, Kontrolle und DIN-Norm. Die bedeu- tendste anwaltschaftliche Aufgabe der Diakonie ist es, die Erzählperspektive der Betroffenen wiederzu- gewinnen. Erzählen aus der Perspektive derer, die sich Einrichtungen der Diakonie anvertraut haben. Erzählen statt Klagen oder Anklagen, das wäre eine Chance, auf Zukunft hin das soziale Klima anzuwärmen. Dr. Thomas Mäule, Pfarrer „Aus der Heimstiftung“ 2/2017 19

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