Ausgabe 1/2018

Meinung lich werden Pflegeheime mit dem Abbau der Sek- torengrenzen abgeschafft und zu Orten des Woh- nens mit integrierten Pflegeangeboten, die hinzu gewählt werden können. Die Finanzierungsverant- wortung und die Verantwortung der Leistungser- bringung werden, wie im häuslichen Bereich und in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft, auch im (dann nicht mehr stationären) Pflegeheim auf unterschiedliche Leistungserbringer verteilt. Wie sieht in Ihrem Gutachten der Lösungsansatz für das hohe Armutsrisiko in der Pflege aus? Als das Kuratorium Deutsche Altershilfe mit einem Gutachten1974dieDebatte umdie Einführung einer Pflegeversicherung entscheidend angestoßen hat, wurde dies hauptsächlich damit begründet, dass der deutsche Sozialstaat als Sozialversicherungsstaat die Menschen gegen die Wechselfälle des Lebens absi- chern soll. Bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder Alterwirdder erreichte Lebensstandard entsprechend abgesichert. Diese Funktion erfüllte der Sozialstaat bei Pflege seinerzeit nicht, weil die Sozialhilfe zur Hauptquelle öffentlicher Finanzierung gewordenwar und nur geleistet wird, wenn das eigene Vermögen aufgebraucht ist. Heimpflege führte seinerzeit – bei einer ganz normalen Erwerbsbiographie – dazu, dass die Betroffenen im Alter zu „Taschengeldempfän- gern“wurden. In ihrer derzeitigenAusgestaltung hat die Pflegeversicherung daran im Grunde nichts ge- ändert. Der monatliche Eigenanteil für die pflegebe- dingtenKosten lag imPflegeheim2017 bei rund 600 Euro. Diese Kosten sollten gemäßder ursprünglichen Blümschen Konzeption komplett von der Pflegever- sicherung getragen werden. Werden die von den Heimbewohnern zu zahlendenmonatlichen Ausga- ben für Unterkunft und Verpflegung und Investiti- onskosten hinzuaddiert, lag der gesamte durch- schnittliche Eigenanteil 2017 bei rund 1.700 Euro – und damit weit über den durchschnittlichen Alter- seinkünften. Der Eigenanteil liegt aber nicht nur systematisch zu hoch, er steigt zudem automatisch, wenn sich die Personalausstattung der Einrichtung verbessert oder die Entlohnungder Pflegekräfte steigt. Diese Systematik, nach der alle Qualitätsverbesse- rungen zu 100 Prozent von den Pflegebedürftigen zu tragen sind, wirkt daher als Bremse für Qualitätsver- besserungen. InunseremGutachtenhabenwir deshalbuntersucht, wie das finanzielle Risiko des Einzelnen aufgehoben werden kann und bieten mit dem „Sockel-Spitze- Tausch“ einen interessanten Lösungsansatz. Was genau bedeutet dieser „Sockel-Spitze- Tausch“? Es geht dabei um eine Umwandlung der aktuell geltenden PflegeTEILversicherung in eine Pflege- VOLLversicherung mit Sockel. Demnach bezahlen die Pflegebedürftigen zukünftig einen festen Sockel- betrag (Eigenanteil) und die Pflegeversicherung übernimmt alle darüber hinausgehenden, notwen- digen Pflegekosten. Mit der Einführung einer Ka- renzzeit kann dieser Eigenanteil zeitlich fixiert und so in der Höhe zuverlässig berechnet werden. Der Eigenanteil für die Versicherten kann dann gesetz- lich festgesetzt werden. Ein bedeutender Vorteil des Szenarios ist, dass der Eigenanteil erstmals in der Höhe und in der Dauer, in der er anfällt, kalkulierbar wird und so durch Ansparen oder durch Versiche- rung abgesichert werden kann. Dieses Systemmin- dert damit das Risiko der Altersarmut. Welche Kosten bringt dies dann mit sich? Das hängt davon ab, auf welcheHöhe der Eigenanteil festgesetzt wird. Wird er so festgesetzt, dass in etwa die gleichen privaten Anteile finanziert werden wie jetzt – allerdings breiter verteilt undnichtmehr primär von denen, die lange pflegebedürftig sind – bleiben dieAusgabender Pflegeversicherung imWesentlichen unverändert. Bei einer Karenzzeit von 3–4 Jahren resultieren nach unserenModellrechnungen Sockel- beträge von 300–400 Euro. Wird der Sockel auf Null gesetzt, resultieren rein rechnerisch Ausgabensteige- rungen von etwa 0,7 Beitragssatzpunkten – immer vorausgesetzt, dass nur notwendige Pflegeleistungen (inähnlichemUmfangwiederzeit) finanziertwerden. Glauben Sie, dass die vorgeschlagene Reform die Situation spürbar verbessern kann? Ja! Unser Gutachten geht davon aus, dass durch die Reformdas Lebenszeitrisiko vollständig abgefangen werden kann. Dabei ist es dann unerheblich, ob dies über eigene Ansparungen, einer privaten Versiche- rung oder der Sozialversicherung geschieht. Durch die Aufhebung der Vollversorgungslogik im statio- nären Bereich wird es möglich, einzelne Leistungs- module, analog zum häuslichen Setting, auch im bisherigen Heim privat erbringen zu lassen. Bei vollständig gleicher rechtlicher Ausgestaltung beider Bereiche werden sektoral selektive Anreize abgebaut und die Wahl der Versorgungsform kann rein prä- ferenzgesteuert erfolgen. Die Familien und die Zivil­ gesellschaft werden damit auch stärker in die Heim­ pflege mit einbezogen. Zur Person Heinz Rothgang ist Profes­ sor an der Universität Bre­ men und leitet im SOCIUM, dem Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpo­ litik die Abteilung „Ge­ sundheit, Pflege und Al­ terssicherung“. Die Abtei­ lung beschäftigt sich mit allen Fragen des Gesund­ heitssystems, der Langzeit­ pflege und der Alterssiche­ rung auf lokaler, nationaler und international verglei­ chender Ebene. Sie arbeitet inter- beziehungsweise multidisziplinär und erhebt den Anspruch, politikrele­ vante Themen aufzugreifen und so zu einer wissen­ schaftsbasierten Politikbe­ ratung beizutragen. www.pro-pflegereform.de/ gutachten „Was genau bedeutet dieser ‚Sockel-Spitze- Tausch‘?“ „Aus der Heimstiftung“ 1/2018 15

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